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  • Rainer Koch

Männerspezifische Suchttherapie – Notwendigkeit und Auswirkungen

Aktualisiert: 4. März

Vortrag zur fdr-Fachtagung „Gender Mainstreaming“ am 9.5.2005 in Berlin




Liebe Kolleginnen und Kollegen !


Kurz zu meiner Vorstellung: Ich bin Psychologe und Leiter der Fachklinik Flammersfeld im Westerwald, einer Männerklinik für polytoxikomane Patienten. Zuvor war ich u.a. tätig als

Streetworker für rechtsradikale Heranwachsende, Psychotherapeut in der Heimerziehung dissozialer Jugendlicher, Fachbereichsleiter in der Familienbildung, Erziehungsberater, Psychologischer Psychotherapeut in nebenberuflicher Privatpraxis, Psychologe in diversen Reha-Einrichtungen, Forensischer Psychologe (§ 64)


Sie sehen, ich bin per Berufserfahrung quasi zum Experten für vollständig misslungene Formen männlicher Sozialisation geworden. Aber nicht nur infolgedessen arbeite ich gerne in einer Männereinrichtung, sondern halte diese Ausschliesslichkeit auch für fachlich geboten. Dies möchte ich Ihnen u.a. gerne begründen.


Geschlechtsunterschiede in der frühen Sozialisation


Die Erkenntnisse der Statistik darüber, dass es große Unterschiede in den Suchterkrankungen und Suchtverläufen von Männern und Frauen gibt, brauche ich Ihnen sicher nicht zu wiederholen. Die Erfahrung der Praxis bestätigt diese Befunde fortwährend. Unstrittig ist gewiss auch, dass neben Genetik und Pharmakologie die familiären und gesellschaftlichen Umstände eine große Bedeutung im Krankheitsgeschehen haben.


Ich möchte allerdings auf 2 Besonderheiten in diesem Zusammenhang hinweisen, welche für die Polytoxikomanie und Suchterkrankung bei Männern gestaltend sind:


  1. Die Anwesenheit von erwachsenen Männern innerhalb der primären und sekundären Sozialisationsinstanzen (Familie, Vorschulerziehung, Grundschule und nachfolgende Schulen) verringert sich zunehmend. Ein männliches Kind kann unter Umständen mehr als 10 Jahre warten, bis der erste erwachsene Mann von sozialisierender Bedeutung in sein Leben tritt, wenn überhaupt.

  2. In der überwiegenden Mehrzahl lassen sich bei unseren polytoxikomanen männlichen Patienten schon frühe Störungen der Einhaltung sozialer Normen feststellen, die sich später in Begleitdiagnosen der „Dissozialität“ oder „Antisozialen Persönlichkeit“ wieder finden, bzw. im Ausmaß ausgeübter Kriminalität und Strafhaft.


Grundstörung


Wenn wir an dieser Stelle über polytoxikomane Patienten sprechen, dann sprechen wir über Männer, die – gelinde gesagt – ein sehr schlechtes vorbereitendes und begleitendes Training für das Leben hatten.


Sei es, dass sie unerwünscht geboren wurden, überforderte Eltern hatten, früh missverstanden, misshandelt oder missbraucht wurden, körperlich oder seelisch. Viele haben multiple Traumata verarbeiten müssen, haben mehrfach Trennungen von wichtigen Bezugspersonen erlebt oder sind selbst in Familien aufgewachsen, in denen Sucht, Gewalt und psychische Krankheit schon lange zuhause waren. Sie haben oft ein Übermass an Verwahrlosung erfahren oder auch grenzenlose Verwöhnung, z.T. im Wechsel mit extremen Versagungen. Sicherheit und Geborgenheit bei Erwachsenen haben die meisten nur sehr begrenzt erfahren.


Nach dieser Art von Lebenstraining ist entsprechend die Ausstattung an den Ich-Funktionen, die wir Menschen für das befriedigende Hineinwachsen in die umgebende Gesellschaft benötigen, defizitär. Beeinträchtigt sind beispielsweise diverse Ich-Funktionen wie

Affekttoleranz, Impulskontrolle, Frustrationstoleranz, Realitätsprüfung, Verdrängung, Räumliche und zeitliche Orientierung, Verknüpfung von Mitteln und Zweck, Angst und Spannungskontrolle, Resistenz gegen Versuchungen, Toleranz gegenüber Schuldgefühlen, Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, (Größenfantasien versus Minderwertigkeitsängste), usw.


Natürlich erwerben sich die meisten Patienten innerhalb ihrer Sozialisationsumgebungen auch besondere Fähigkeiten und Kompetenzen, die ihnen ein Weiterleben ermöglichen, wie etwa Schmerzresistenz, Abspaltungsfähigkeit, Projektion, Muskelkraft, kriminelle Kompetenzen, dissozialer Charme oder schizoide Einfühlungsfähigkeiten.


Die Fähigkeiten und Defizite bilden oftmals in Kombination mit angeborenem Temperament und anderen genetischen Merkmalen relativ früh schon psychische Charakterbilder, Persönlichkeitsstrukturen als überdauernde Muster des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens, Handelns, die später dann als komorbide Persönlichkeitsstörungen, schwere Neurosen oder umfassende Verhaltensstörungen begleitend zur Suchterkrankung diagnostiziert werden.

Man gebraucht dafür den Begriff „Grundstörung“.


Wir gehen somit von unterschiedlich geformten, individuellen Grundstörungen der persönlichen Entwicklung des Einzelnen aus, die in der Regel schon vor der Pubertät von psychiatrischem Krankheitswert sind. Fast alle der in unserer Klinik befindlichen Patienten hätten als Kinder mühelos eine psychotherapeutische Krankenbehandlung bei Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten erhalten, wenn denn eine solche beantragt worden wäre.


Überformung durch Suchterkrankung


Diese psychischen Grundstörungen wiederum werden überformt und verändert durch die Suchterkrankung mit all ihren Auswirkungen auf Körper, Seele, Geist, soziale Umwelt. Auch hier gibt es höchst unterschiedliche Formen und Symptome, geprägt von den individuellen Mustern und Auswirkungen des Konsums der psychotropen Substanzen sowie den Erfahrungen im System Sucht (verändertes soziales Umfeld, Subkultur, Hilfesystem, Justizerfahrungen, usw.).


Eine gemeinsame Ursache der Sucht zu finden ist zumindestens im psychotherapeutischen Bereich aufgegeben worden. Ich vermute einmal – ohne große Sachkenntnisse zu haben – dass auch im Bereich der Neurobiologie und Genetik die Einflußgrößen so zahlreich und unterschiedlich sind, dass auch dort keine monokausalen Theorien von allumfassendem Erklärungswert zu finden sind, sondern ebenfalls sehr unterschiedliche, individuelle Faktoren einen Beitrag zur jeweiligen Suchterkrankung leisten.


Gemeinsamer Nenner von Grundstörung und Suchterkrankung


Dennoch gibt es aber m. E. eine zentrale Gemeinsamkeit, welche den überwiegenden Teil der polytoxikomanen männlichen Patienten charakterisiert:


Wer vor oder während der Pubertät über das Ausprobieren und gelegentlichen Missbrauch hinaus eine Suchtentwicklung eingeleitet hat, hat in der Regel auch eine früh diagnostizierbare individuelle Grundstörung, deren vorrangige Auswirkungen eine gestörte Selbstwertregulation ist, insbesondere im Bereich der geschlechtlichen Identität.


Oftmals ist bei diesen männlichen Patienten schon die Entwicklung der Kern-Geschlechtsidentität in den ersten Lebensjahren gestört. Die Entwicklung der Geschlechtsrollen-Identität und deren Differenzierung in den ersten 5 Lebensjahren sowie die Ablösung von den Müttern und damit auch von eigenen weiblichen Identifizierungen ist in der Regel nicht gelungen, wobei die Abwesenheit oder mangelnde Hilfestellung der Väter entscheidend ist. Das Mißlingen hat weitreichende Folgen für die Psyche: dazu gehören sexuelle Perversionen, Aggressivität gegenüber Frauen und übersteigerte männliche Aktivität.



Es gibt in Bezug auf Elternschaft den Begriff „good enough mother/father“, eine Selbstwertkategorie von Elternschaft, die man sich in der Erfahrung mit seinen Kindern erarbeitet. In ähnlicher Weise haben natürlich auch Kinder ein großes Verlangen, sich als „good enough“ zu fühlen. Männliche Kinder fragen sich gleichermaßen:


Bin ich ein guter Sohn für meine Mutter? Bin ich ein guter Sohn für meinen Vater? Bin ich ein guter Junge ? Bin ich ein guter Junge ? Und: Wann bin ich gut genug als Junge?


Die meisten unserer Patienten konnten diese Fragen keinesfalls sicher mit ja beantworten. Sie suchten nach Wegen, die hochambivalenten oder defizitären Bestätigungen ihres männlichen Wertes schon früh in ihrer Entwicklung durch kompensatorische Aktionen zu komplettieren.


In der Latenzzeit und Pubertät übernimmt nämlich die Peergroup die Funktionen der Definition von Gender. Für die basale Regulation des Selbstwertes im Bereich der geschlechtlichen Identifikation ist die Anerkennung durch andere – junge – Männer der jeweiligen Peergroup zentral und kann auch nicht ersetzt werden, es sei denn, durch Personen, denen von der jeweiligen Peergroup die Macht zugestanden wird, den Wert als Mann zu definieren. (wie etwa Sporttrainer oder ältere Kriminelle)


Die meisten unserer Patienten sind im besonderen Maße ausschliesslich von dieser peer-group-Spiegelung abhängig, weil im familiären Vorlauf in der Regel keine identitäts- und selbstwertstützende Zuwendung durch ein positiv wirkendes männliches Objekt von Bedeutung erfolgte.


Hinzu kommen oft Erfahrungen von Entwertungen des Männlichen durch sozialisierende Frauen (Schwestern, Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen).


Hinzu kommen auch die häufigen selbstwert- und identitätsschädigenden Einflüsse des Scheiterns in Schule und anderen sozialen Bereichen, wo auch keine Anerkennung durch andere männliche Personen mit Macht und Ansehen erfolgte, sondern eher im Gegenteil die ohnehin labile Selbstwertregulation und somit die gesamte Psyche weiter geschädigt wurde.


Männlichkeit wird dann auch hilfsweise definiert als Verneinung von Weiblichem, das in der Pubertät als tuntenhaft – homosexuelles Verhalten in die Nähe des sozusagen „Abartigen, Perversen“ gerückt wird, u.a. auch um Distanz zu eigenen femininen Identifikationsanteilen oder homoerotischen Wünschen herzustellen.


Der Kollege Vosshagen, selbst Psychotherapeut und langjährig leitender Psychologe der Fachklinik Kamillushaushat ja im vorherigen Vortrag deutlich gemacht, welche Erscheinungsformen darauffolgend die Konstruktion von Männlichkeit in der Adoleszenz und später mithilfe von Suchtmitteln, das „doing gender with drugs“ hat.

Nebenbei: Ursprünglich war dies auch eine Forschungsrichtung der Kriminologie mit Betonung auf „doing gender – doing crime“, auch früher schon mit männerspezifischer Ausrichtung.


Was bedeutet das alles für die klinische Praxis der Suchttherapie und Suchtarbeit?


Mit dieser adoleszenten Entwicklung der süchtigen und kriminellen Geschlechtsidentität ist einiges an Fragen verknüpft:


Warum so früh ? Warum so heftig ? Warum blieb es nicht beim Ausprobieren von Suchtmitteln ? Warum konnte der Patient kein halbwegs integrierter Alkoholiker werden ? Wo war die Angst vor den harten Drogen ? Weshalb wurde Lust und Bestätigung in kriminellem Tun gesucht ? Warum dieses Ausmaß an Knast-Tätowierungen ? Woher diese heftige Homophobie ? Und die Gewalt ? usw. usw.


Sucht als Rettungsaktion für den labilen jungen Mann


Wir haben für uns die Schlussfolgerung gezogen, all diese adoleszenten Bewegungen hin zur Polytoxikomanie als großartige Rettungsaktion für die labile Persönlichkeit, für die angegriffene Psyche, für die seelische Rest-Gesundheit zu betrachten, angesichts der Bedrohtheit eines fragilen Systems, das durch die zusätzlichen Belastungen der pubertären Reifung vor dem Zusammenbruch steht.


In diesem Sinne ist für uns „doing drugs“ nicht nur „doing gender“ en passant, nicht nur beiläufige Konstruktion einer süchtigen Männeridentität, sondern die einzige Möglichkeit, kohärente Person zu bleiben oder zu werden, und zwar bezogen auf die Geschlechtlichkeit als zentrales Merkmal der Person. (Person im Sinne von Maske, durch die das Wesen des Menschen hindurchtönt.)


Ich will es noch einmal betonend aus der Sicht der Patienten sagen: „Bevor ich ein Nicht-Mann bleibe, ein Versager, ein Schwächling, ein Mädchen oder Mamas Zappelphillip, gehe ich lieber zu den großen bösen Jungs und werde einer von denen."


(In diesem Zusammenhang empfehle ich allen, einmal das wunderbare Bilderbuch von Maurice Sendak mit dem Titel „Wo die wilden Kerle wohnen“ zu lesen, da wird vieles deutlich, was die kindliche und pubertäre männliche Persönlichkeitsformung betrifft.)


Infolge dieser Betrachtungsweise stellen wir die männliche Identitätskonstruktion in den Mittelpunkt unserer psychotherapeutischen und suchttherapeutischen Behandlung. Alle Manifestationen der Persönlichkeit der Patienten, ob es nun die Anteile der Suchterkrankung, die der Grundstörung oder auch die der gesund gebliebenen Fähigkeiten, Eigenschaften und Ressourcen sind, werden vorrangig im Hinblick auf ihren Beitrag zur männlichen Geschlechtsidentität und personalen Selbstwertregulation als Mann betrachtet.


Unabhängig von den individuellen Gestaltungen der Erkrankung ist es nach unserer Überzeugung am wichtigsten, den suchtkranken Patienten behilflich zu sein, eine befriedigende maskuline Identität zu errichten, die ihr bisheriges Leben und ihre Erkrankung realitätsgerecht integriert, und alles zu vermeiden, was das fragile maskuline Selbstwertgefühl weiter schädigt.


Was dies nun bedeutet, befriedigende gesunde maskuline Identität, wird im Behandlungsdialog individuell für jeden Patienten entwickelt. Hier gilt auch: Den Patienten dort abholen, wo er ist.


Allen Behandlungsdialogen gemeinsam aber ist das Ziel, sich von den bisherigen zwanghaften innerlichen Einschränkungen und Abhängigkeiten zu lösen und ein flexibleres „doing gender“ zu ermöglichen, das ein Gefühl von stabilem männlichem Selbst beinhaltet und situationsabhängige Anpassung ermöglicht, somit auch die Person differenzierter und reicher werden lässt.


Alle anderen Behandlungsziele haben sich auch darauf hin zu definieren, ob dies nun Beziehungs- oder Arbeitsfähigkeit sind, Abstinenz, legale Orientierung, was auch immer. Auch Teilziele therapeutischen Handelns, wie etwa der Aufbau von Frustrationstoleranz, von Affektwahrnehmung, von sozialen Fähigkeiten, werden zuvörderst in Bezug gesetzt zur Unterstützung der Konstruktion einer stabileren und gesünderen männlichen (Kern)-Identität.


Also, zusammengefasst, die Maximen unseres klinischen Handeln sind


  1. Die labilen Identitätsfragmente nicht weiter zu schädigen;

  2. Männliche Kern-Identität und Geschlechtsrollen-Identität unbedingt zu fördern

  3. Individuelle Identität als männliche Person im therapeutischen Dialog zu erweitern


Das erfordert sehr viel Sensibilität, insbesondere gegenüber dem scheinbar allzu Selbstverständlichen des klinischen Alltags der Rehabilitation und psychotherapeutischen Arbeit mit suchtkranken Männern. Noch mehr erfordert es aber eine generelle Ausrichtung der gesamten Einrichtung in ihrer Philosophie, ihrer Struktur und ihren Abläufen auf diese Therapiemaximen. Das ist bei weitem mehr als die Einrichtung einer speziellen Männergruppe oder instrumentelle Übertragungen aus der frauenspezifischen Suchttherapie, die allerdings viele wertvolle Impulse geben kann.



Ich möchte Ihnen nun etwas aus der gelebten Praxis berichten:


Wir sind in der Klinik noch in der Entwicklung einer umfassenden Identität als Männerklinik begriffen, im gemeinsamen Dialog der Mitarbeiter, unter gelegentlicher Miteinbeziehung der Patienten.

Wir hatten bislang einzelne Behandlungssegmente schon mehr oder weniger bewußt auf die Stützung männlicher Identität orientiert, die wir nun wie in einem Patchwork- Vorgang zu einem Gesamt zusammenfügen. Deshalb kann ich Ihnen nur einen etwas fragmentarischen Entwurf bieten und vielleicht an dem ein oder anderen Beispiel deutlich werden lassen, welche Konsequenzen aus der männerspezifischen Ausrichtung zu ziehen sind.


Struktur der Fachklinik Flammersfeld


Wir behandeln in einem gemischtgeschlechtlichen Team 36-40 polytoxikomane Patienten. Unser Behandlungsschema im Tagesablauf beinhaltet morgens Arbeitstherapie, nachmittags Bezugstherapie und Sport, abends spezielle Module.


Was uns von vielen anderen Männerkliniken unterscheidet ist: Wir haben eine Patienten-Fußballmannschaft, die in der offiziellen Liga (Kreisklasse D) mitspielt und vom DFB gefördert wird. Bei Heimspielen unserer Mannschaft ist es für alle Patienten Pflicht, auf dem Fußballplatz präsent zu sein und die Fußballmannschaft zu unterstützen. Wir sehen Fussball nicht nur als Sport, sondern als gruppentherapeutische Veranstaltung für Männer mit direktem Bezug auf Geschlechtsrollenkonstitution.


Ingesamt legen wir aber sehr viel Wert auf Sport und körpertherapeutische Erfahrung, wir haben einen eigenen hochqualifizierten Sportlehrer mit vielen therapeutischen Zusatzausbildungen. Die Patienten machen neben Fußball z.B. Aikido, Tai Chi, Qi Gong, Konditionsaufbau, Joggen, Volleyball, Badminton.


Unsere Arbeitstherapie ist entsprechend klassischen Rollenmuster besetzt: Schreinerei, Gartenbau und Hausmeisterei sind von männlichen Arbeitstherapeuten geleitet. Küche, Hauswirtschaft, Wäscherei und Ergotherapie werden von weiblichen Arbeitstherapeutinnen geführt.


Die 4 Bezugstherapiestellen waren bis vor kurzem paritätisch besetzt, nun haben wir drei Frauen und einen Mann dort, es ist leider sehr schwierig, qualifizierte Männer mit VDR-anerkannter Qualifikation als Suchttherapeuten bzw. Psychotherapeuten im sozialen Bereich zu finden.


Die Einrichtung wird von mir geleitet, als Vertreter fungiert der männliche ärztliche Leiter. Alle drei Nachtwachen sind Männer, der Sozialarbeiter im Sozialdienst ebenfalls. Drei weibliche Verwaltungskräfte ergänzen das bislang genannte Team.

Wie sie sehen, entspricht unser personelles Behandlungsangebot größtenteils den klassischen Rollenverteilungen, einer weitgehend patriarchalen Struktur. Das ist nun kein Zufall, selbst wenn mitunter Zufälle bei der Personalplanung mit hinzukommen.


Wir bieten den männlichen Patienten eine relativ bekannte bzw. eine ersehnte einfache männlich geprägte Struktur an. Insbesondere ausländische Patienten mit starker patriarchaler Prägung (Türken, Deutschrussen, Italiener) finden hierin Geborgenheit und Sicherheit.



Nun zu einigen Grundsätzen (Allgemeine Thesen)


1. Männerspezifische Suchttherapie bedeutet vordergründig erst einmal, sich zu entscheiden, ausschliesslich Männer zu behandeln.

Angesichts des zunehmenden Drucks der umgebenden Gesellschaft auf identitätsunsichere Menschen mit strukturellen Störungen, (das sind Schwächen und Defekte im Stützsystem der Persönlichkeit) und das gilt für die meisten polytoxikomane Patienten, ist Entlastung in der Form eines Schonraumes dringend nötig, um psychotherapeutisch an der Heilung kranker Strukturen arbeiten zu können, analog einem psychosozialen Moratorium nach Erikson.


Die Zumutung des anderen Geschlechtes in dieser labilen klinischen Phase nach vorausgegangener 3-wöchiger Entgiftung in gemischtgeschlechtlichen Gruppen mit all den geschlechtstypischen Störungen von Männern wie von Frauen, die auf das jeweils andere Geschlecht wirken, erschwert die Therapie. Viele Patienten und Patientinnen, und auch bei diesen handelt es sich ja um süchtige und zutiefst beziehungsgestörte, schwer psychisch kranke Frauen, erleben dadurch erneut Kränkungen und auch Retraumatisierungen.


Die meisten männlichen Suchtkranken sind in großen Teilen ihrer inneren Entwicklung in oder vor der Pubertät stecken geblieben, lange bevor die inneren Instanzen soweit gereift gewesen wären, probehalber schon das Beziehungsgeschehen mit Frauen zu üben.


Es ist deshalb allemal einfacher, süchtige und schwer beziehungsgestörte Patienten in einem eingeschlechtlichen Rahmen zu unterstützen, eine stabile Identität auszubilden, auf deren Basis dann später darauffolgend Partnerschaften mit Frauen aufgebaut oder bestehende Beziehungen verändert werden können.



2. Wenn man ausschliesslich Männer behandelt, hat dies auch andere Konsequenzen

Zum Beispiel kann man keine Frauen als kommunikative Psychogruppen-Gestalterinnen einsetzen, die für die Gefühlsseite stehen. Auch bei der Pflege der Sitten im Umgang miteinander sind keine Frauen in der Funktion einer sozialen Watte da, welche durch ihre Anwesenheit schon dafür sorgen, dass nicht zu laut geschmatzt wird oder sich anständig gekleidet wird.


Es gibt auch kein Balzverhalten, keine „Mutter der Kompanie“, keine geheimen sexuellen Bündnisse, keine verborgene Zuhälterei und keinen Mitarbeiter, der den Schlüssel für das stundenweise zu nutzende „Beziehungszimmer“ verwaltet und Probleme mit seiner Identität und Stellenbeschreibung hat. Die Dominanzreihenfolge unter den Männern wird nicht darüber definiert, wer von der attraktivsten Mitpatientin als sexueller Gefährte erkoren wird. . Referenzrahmen ist stattdessen die Männergruppe mit ihren eigenen Wertsystemen.


Man muß sich anders mit den Fragen der Masturbation aussetzen, des Aufsuchens von Prostituierten, und männertypischen pubertären Regressionen, angefangen vom Wassereimer auf der Tür bis hin zu sadistischen sexualisierten Initiationsriten. Zudem orientiert sich die gesamte frei verfügbare Libido auf die anwesenden weiblichen Mitarbeiterinnen, die sich dessen bewusst sein müssen, dass sie auch als sexuelle Wesen betrachtet werden und Phantasievorlagen der Masturbation der Patienten sind, in Einzelfällen auch schon mal früh grenzüberschreitungen, Verführungen oder Übergriffe begrenzen müssen.


3. Die Klinik als Gesamt muß die maskuline Kernidentität fördern

im Sinne von : Du bist Bestandteil einer wertvollen Organisation, die gut ist und heilsam für Männer, die auch Männer anspricht. (Wobei ausgesprochen und unausgesprochen klar sein muß, dass es für Frauen als Patientinnen ganz andere Organisationsformen und Regeln gäbe). Ausgesprochen werden muß auch, dass es gut ist, dass ausschliesslich Männer behandelt werden. Unausgesprochen muss spürbar sein, daß die Fachkräfte gern mit Männern arbeiten.


Ob dies nun oberflächlich gesehen strukturell so patriarchal sein muß wie bei uns sei dahingestellt, es erscheint mir allerdings einfacher für Patienten und MitarbeiterInnen, mit einer vereinfachten Struktur und klassischen Rollenverteilung zu arbeiten, der Störung der Patienten nicht mit Komplexität zu begegnen, sondern erstmal einfache stützende Strukturen zu bieten.


4. Insgesamt erfordert diese Orientierung ein deutliches Geschlechtsbewusstsein

aller weiblichen und männlichen Fachkräfte, die über große Sicherheit in der eigenen Geschlechtsidentität verfügen müssen und sich nicht durch die Patienten emanzipieren oder bestätigen müssen.

Dazu gehört natürlich auch, dass untereinander die andersgeschlechtlichen MitarbeiterInnen Wertschätzung erfahren und Gender und Geschlechtlichkeit nicht nur in der Supervision mit berücksichtigt werden, sondern alltägliche Perspektiven sind.


Größere Schwierigkeiten haben meist Kollegen und Kolleginnen, die selbst noch sehr unsicher in ihrer Männlichkeit oder Weiblichkeit verankert sind.


Schwierig ist es meiner Erfahrung nach mit alleinerziehende Müttern als Therapeutinnen, wenn die Kränkung der verlassenen Weiblichkeit nicht verarbeitet ist. Schwierig ist es auch für Kolleginnen, die selbst sehr wenige oder unglücklich verlaufende Erfahrungen in intimen Beziehungen mit Männern haben.


Schwierig haben es auch männliche Kollegen in verlängerter Adoleszenz, die sich den oft jüngeren Patienten als „ältere Brüder“ kumpelhaft-jugendlich anbieten und auf diesem Weg den eigenen Prozess des Alterns und Erwachsenwerdens verzögern wollen. Schwierig ist es auch mit Mitarbeitern, die in ungelösten Autoritätskonflikten mit dem eigenen Vater steckengeblieben sind und Probleme haben, sich mit der Staatsgewalt, dem Recht und Ordnungssystemen zu identifizieren.



Männerhorde und Rudel-Psychologie


Viele Alltagsprobleme lassen sich einfacher angehen, wenn strukturell berücksichtigt wird, dass es in Männerhorden ähnliche Bedürfnisse gibt wie in Rudeln von Hunden, man hier also auch etwas aus der Sozialpsychologie von Rudeltieren entlehnen kann. Beispiele:


  1. Es sind hauptsächlich die körpersprachlichen, weniger die lautsprachlichen Abläufe, die zu beobachten sind im inneren Verhältnis. Wenn Sie darauf achten, entdecken Sie sehr schnell, ob sie einen mafiösen Boss unter den Patienten haben.

  2. Die Rangposition im Rudel (der Gruppe) ist wichtig und gibt viel Sicherheit. Entsprechend sitzen bei uns die „dienstältesten“ Patienten oben am Tisch, führen den Vorsitz. ( s. auch Hellinger)

  3. Das Rudel (die Gruppe) kann man sich selber ordnen lassen, bis auf Beschädigungen, da muss man dann trennen. Selbstregulation der Patientengruppe ist sehr erwünscht, wird aber im Hinblick auf dissoziales oder süchtiges Verhalten kontrolliert.

  4. Die Entfernung aus dem Rudel (der Gruppe) ist eine harte Zurechtweisung, ja eine Strafe für Rudeltiere. Entsprechend wirksam ist dies bei disziplinarischen Problemen, die wir allerdings sehr genau von Krankheitsschüben unterscheiden.

  5. Die Alpha-Position hat immer der menschliche Rudelführer (Klinikleiter, Stationsleiter, Gruppentherapeut) zu behalten. Wer sich jedoch nicht durchsetzen kann (sichtbar im gewöhnlichen Straßenalltag an manchen Hundehaltern ) wird nie Alpha. Er hat ein Rangordnungsproblem, das er an sich selber lösen muss. Entsprechend klar muß das Führungsverhalten der MitarbeiterInnen sein, auch der Klinikleitung. Man kann keine Gruppe von dissozialen Patienten aus der Beta-Position heraus therapieren.

  6. Sollten in der Klinik disziplinarische Maßnahmen nötig sein, ist es besser, der Leiter führt diese in seiner Funktion als Rudelführer durch, bestätigt seine Rolle und entlastet so z.B. die Gruppentherapeuten von höchst ambitendenten Rollenmerkmalen, die nebenbei für manche Patienten ohnehin schwer zu verkraften sind.



Der männliche Körper in der männerspezifischen Suchttherapie


1. Männer kommunizieren körperlich

Insgesamt gilt es auch zu berücksichtigen, dass Männer andersartige Kommunikationsformen haben als Frauen. Insbesondere der nonverbale Transport bedeutungsvoller Signale mithilfe der Körpersprache ist hierbei zu berücksichtigen. Das bedeutet beispielsweise, dass in Fallsupervisionen immer auch der körpersprachliche Anteil von Interaktionssequenzen berücksichtigt werden muß. Die Frage: „Wie haben Sie das dem Patienten gesagt ?“ ist da unter Umständen hilfreicher für die Beziehungsklärung und Gegenübertragungsanalyse als die Orientierung am Inhalt der Botschaft.


2. Körperkontakt unter Männern ist anders zu bewerten

als unter Frauen, was z.B. die Frage der Gewalttätigkeit berührt: Kämpferische Muskelaktion – miteinander oder im Vergleich – definiert auch Bestandteile der Männlichkeit und somit der Person. Dementsprechend müssen Ebenen zur Verfügung gestellt werden, in denen dies ohne innere oder äußere Verletzung ermöglicht werden kann. Ob Sport, Kraftsport oder Kampfsport, ritualisierte Formen der Gruppenaggression (Tauziehen) ist relativ egal, wenn die körperliche Leistung Wertschätzung erfährt, aber auch eingebettet wird in ein Gesamt der Persönlichkeit. Nicht zu vergessen, das dies auch Möglichkeiten sind, die immense Sehnsucht nach bestätigendem Körperkontakt durch andere Männer teilweise zu befriedigen (Was gibt es Intimeres unter Pubertären außer einem Ringkampf ?)


3. Mut zum väterlichen Angreifen ist nötig

Entsprechend wichtig ist es auch, dass die männlichen Mitarbeiter und Leiter auch körperliche symbolhafte Zugänge zu den Patienten wahrnehmen, diese auch anfassen, sie per Handschlag begrüssen, usw.. Dies ersetzt nicht die Trauer um den erfahrenen Mangel an väterlicher Zuwendung, baut aber nonverbal Brücken des Kontaktes, die oft gerade in Krisensituationen die Beziehung tragen helfen.


4. Der Körper braucht Wertschätzung

Jugendkultur hat immer schon ganz stark verwiesen auf den Körper, weil Jugendliche zunächst einmal im Unterschied zu Erwachsenen nicht mehr haben als ihren Körper zur Inszenierung ihres sozialen Status und ihres Selbst. Das gleiche gilt für die sog. Knastkultur und für die Subkultur der drogenabhängigen Männer.


Die Körperkultur (Tätowierungen, Piercings, Muskelaufbau, Kleidung, Haartracht) ist deshalb prädestiniert dazu uns zu zeigen, was eigentlich mit dem Körper passiert im Hinblick auf geschlechtliche Identitäten. Diese symbolischen Botschaften über gender und Status müssen dechiffriert werden und in den therapeutischen Dialog miteinbezogen werden.


5. Der männliche Phallus benötigt adäquate narzißtischer Besetzung und symbolische Exhibition

Ohne narzißtische Besetzung, d.h. Wertschätzung, des eigenen Geschlechtsteils und ohne symbolische Äußerungsformen dessen bleibt die geschlechtsbezogene Identität labil. Hier müssen in symbolischer Interaktion Wege gebaut oder gefunden werden, als phallischer Mann gesehen und wertgeschätzt zu werden.



Neben diesen körperbezogenen allgemeinen Aspekten, die unbedingt berücksichtigt werden müssen, möchte ich Ihnen einige


Standards der klinischen Suchtarbeit mit Männern


vorschlagen. Unbedingt nötig sind


1.) Anamnestisches Erfragen von männlichen Leitfiguren oder Vaterfiguren


2.) Berücksichtigung aktiver und passiver Gewalterfahrungen, auch sexualisierter, homo- wie heterosexuell, auch Demütigungen


3.) Anamnestisches Erfragen erektiler Potenz/Impotenzerfahrungen, auch in Verbindung mit Drogengebrauch, und Sexualitätserleben


4.) Berücksichtigung von Vaterschaft, Beziehung zu Kindern und Kindesmutter (Unterhalt)


5.) Berücksichtigung zentraler männlicher Gestaltungsaspekte von Sein und Beziehung wie


  • Externalisierung

  • Stummheit

  • Alleinsein

  • Rationalität

  • Kontrolle

  • Körperferne

  • Gewalt


6.) Ergänzung einseitig gelebter Männlichkeit um die abgespaltenen Anteile (Leistung/Entspannung; Aktivität/Reflexivität; Stärke/Begrenztheit )


7.) Berücksichtigung der männlichen Handlungsorientierung innerhalb der Beratung und Therapie


8.) Korrektur der Ängste und Abwertungen bezüglich Frauen


9.) Förderung gefühlvoller Körperlichkeit unter Männern


Einzelempfehlungen aus der gegenwärtigen Literatur


Neben diesen Aspekten können Sie mittlerweile viele Impulse aus der wachsenden Fachliteratur über männerspezifische Ansätze in der Psychotherpie und Suchtarbeit ziehen. Mit ein wenig Mühe und guten Suchmaschinen lassen sich viele Anregungen im Internet finden, welche die eigene Wahrnehmung und Arbeit gender-spezifisch erweitern können.


Lesen Sie die Artikel meines Vorredners, Herrn Vosshagen, der aus reicher Praxiserfahrung schreibt, lesen Sie, was Heino Stöver schreibt, schauen Sie das Konzept der Casa Fidelio (Schweiz) an, das Konzept von Michael`s House, einer amerikanischen Männersuchtklinik, schauen Sie auch auf die NIDA-Seiten (National Institute on Drug Abuse) www.nida.nih.gov und vor allem auf die umfangreichen Literaturlisten unter www.archido.de



Zum Schluß möchte ich Ihnen nochmals die 3 Handlungsmaximen männerspezifischer Suchtarbeit benennen


  1. Die labilen Identitätsfragmente nicht weiter schädigen;

  2. Männliche Kern-Identität und Geschlechtsrollen-Identität unbedingt fördern

  3. Individuelle Identität als männliche Person im therapeutischen Dialog erweitern


Sie sollten – und das ist auch der gegenwärtige Prozeß in unserer Klinik – alle Strukturen, Regelungen und Abläufe im direkten und indirekten Umgang mit Patienten und Klienten ihrer Institution daraufhin überprüfen, ob und wie diese 3 Leitlinien Berücksichtigung finden.


Angefangen von der Begrüßung (Wer begrüßt, Duzen oder Siezen, Handschlag oder Kopfnicken) über Verfahrensweise bei der Urinabgabe zur Kontrolle (mit direktem Blick auf den Penis des Patienten, mit herabgelassener Hose, durch Arzt oder andere Mitarbeiter? ), Zimmergestaltung ( Pin-Ups an der Wand ? Pornos auf dem Bett ? Filmplakate mit männlichen Gewaltheroen ?), bis hin zur Gestaltung aller Rituale, der therapeutischen Formen und Inhalte, der Verabschiedung (Handdruck, Umarmung, durch wen ?) steht alles zur Disposition.


Sie werden erstaunt sein, an wievielen alltäglichen Punkten Sie durch ihr Handeln Momente der Konstruktion von Männlichkeit im Handlungsdialog beeinflussen. Wenn es gut geht, werden Sie merken, daß Sie in Ihrem beruflichen Handeln unbewußt vielen Patienten schon ein anderes „doing gender“ als Mann ermöglichen.


Vielleicht bemerken Sie aber auch Momente, wo sie weitere Schädigungen an der labilen maskulinen Identität ausüben, ohne dies realisiert zu haben. Korrigieren Sie dies dann und entschuldigen Sie sich dafür, insbesondere, wenn Sie ein Mann sind. Das ist nämlich ein Vorgang, den die wenigsten Patienten als zu einem selbstbewußten erwachsenen Mann bzw. Vater zugehörig erlebt haben.

Auch damit tragen Sie einen guten Teil dazu bei, einem suchtkranken Mann zur Komplettierung seiner Identität zu verhelfen.


Ich hoffe, ich habe Ihre Geduld nun nicht zu lange strapaziert und danke für die Aufmerksamkeit.

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