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  • Rainer Koch

1997 - Das Jahr des Tamagotchis

Aktualisiert: 11. Feb. 2023


Ein kurzer Rückblick aus meiner Zeit als Erziehungsberater

1996 hatten wir in der Erziehungsberatungsstelle der Caritas Wuppertal einen mitunter mühsamen, aber durchweg belebenden Austausch über Game-Boys, Spielekonsolen, Computerspiele und deren Einfluß auf Kinder, u.a. mit dem Ergebnis, daß wir nun selbst auch verschiedene Computerspiele als Medien in der Kinder- und Jugendlichen- Beratung und Psychotherapie benutzen.


Das Jahr 1997 aber stellte uns vor ungeahnte, neue und größere elektronische Heraus-forderungen, nachdem im Sommer endlich die langangekündigte Überschwemmung des deutschen Spielwarenmarktes aus dem fernen Osten begann. Die ehemals im politischen Bereich verortete „Gelbe Gefahr“ nahm Gestalt an in Form eines elektronisch gefüllten Handschmeichlers:


Das Tamagotchi war da !!


Das Tamagotchi stellte ein virtuelles Küken dar, um das man sich wie um ein echtes Haustier kümmern musste, indem man bestimmte Knöpfe betätigte und es so fütterte oder ihm Zuwendung gab. Ab und zu piepste das Tamagotchi und verlangt nach der Zuwendung des Besitzers. Wurde es vernachlässigt, so "starb" es und konnte dann entsorgt werden. Es wurden extra dafür auch eigene Friedhöfe und Telefon-Hotlines etwa in Japan eingerichtet.


Im Nu begann es auch in unserem Warteraum und in den Beratungsräumen zu piepen, und wir waren selbst hin- und hergeworfen zwischen unsicherer Neugier und geheimer Lust auf das „Ei“ sowie all den unheilvollen Beschwörungen durch Pädagogen, Psychologen, Psychotherapeuten und Kulturkritiker in den Medien, die - wie so häufig schon - den Untergang des Abendlandes in Form der Verrohung und Verdummung unserer Kinder durch ebendiese Tamagotchis kommen sahen und dies auch mit den furchtbarsten Fachausdrücken zu belegen versuchten.


Vorsichtige Annäherung


Mit angemessener Vorsicht begannen wir dann nach einiger Zeit, die Kinder selbst zu befragen, uns die Tamagotchis zeigen und den Umgang damit beschreiben zu lassen. ( Auf die Heranziehung der Eltern als Auskunftspersonen mußten wir leider verzichten, da diese sich entweder als strikte, aber unwissende Gegner der elektronischen „Haustiere“ erwiesen oder aber selbst dem Tamagotchi-Fieber erlegen waren, wie uns einige nur unter großer Scham und mit verlegener Stimme gestanden.)


Wie sich dann herausstellte, konnten die Kinder in der Regel gut unterscheiden zwischen dem elektronischen Spielzeug und lebendigen Tieren. Es schien so, als benutzten sie das Tamagotchi wie ein weiteres, interessantes Spielzeug, ähnlich den sprechenden Puppen oder brummenden Teddybären, die ja auch durch ihre Ähnlichkeit mit lebenden Wesen - erinnert sei nur an die „Pippi-Puppen“ - eine ganze Zeit lang die Aufmerksamkeit von Kindern fesseln konnten.

Zudem berichteten die meisten, daß sie sich mit anderen Kindern sehr viel darüber unterhielten, aber trotzdem jederzeit bereit waren, zugunsten eines guten Fußballmatches oder eines Spiels mit den besten Freundinnen das Tamagotchi wegzulegen und sich kreativ, sportlich oder musisch zu beschäftigen.


Vergebens warteten wir auch längere Zeit auf den vorhergesagten ersten Fall von tiefer kindlicher Depression nach dem Tod des elektronischen Spielgefährtens. Leider verhinderte die bald eingeführte „Reset- Funktion“ weitere Forschungen in dieser Richtung.


Tamagotchi Forschung in der Erziehungsberatung


Nachdem wir uns also in dieser Hinsicht Beruhigung verschafft hatten, konnten wir auch endlich mit den kleinen und größeren „Tamagotchi-Erziehern“ anregende Gespräche über Erziehungsverhalten, Liebe und Zuneigung, aber auch die Notwendigkeit von Disziplin und Grenzsetzung, Hygiene und Schlaf, führen. Es stellte sich nämlich heraus, daß unsere jungen Klienten auf das Tamagotchi eigene Erfahrungen und/oder eigene Wünsche an Beelterung übertrugen, mitunter fürsorglich, mitunter nachlässig, manchmal auch sadistisch, aber in der Regel mit einer hohen Bereitschaft, darüber zu sprechen.


So ergaben sich äußerst fruchtbare Dialoge und tiefere Lernprozesse, die bei einigen Kindern sogar zu einem erhöhten Verständnis der eigenen Empfindungen, Phantasien, Reaktionsweisen und letztlich sogar der eigenen Eltern führte.


Der Gebrauch des Tamagotchi als Erziehungsmittel


Es kam sogar so weit, daß eine psychotherapeutische Kollegin die Aufnahme einer längeren Beratung mit der Forderung an einen etwas verwahrlosten Dreizehnjährigen verknüpfte, dieser solle erst einmal 2 Wochen lang ein Tamagotchi am „Leben“ halten, erst dann könne überhaupt eine Therapie begonnen werden.


Und, was soll man sagen, dem Jugendlichen gelang dies nach 4 Wochen, und er hatte sogar zwischenzeitlich verstanden, warum er diese Auflage erhielt.


Nach 9 Monaten: Massensterben der Tamagotchi


Mittlerweile, 9 Monate nach ihrer Artentstehung, war es in unserem Warteraum wieder ruhiger geworden. Die Tamagotchis schienen alle vergessen oder ausgestorben zu sein, letzte Exemplare lagen - zu Sonderpreisen - in den Schaufenstern herum. ansonsten tauchen sie kaum noch auf.


Aber, das macht ja nichts, wie wir alle wissen, denn die Spielzeugindustrie wird uns bald den nächsten Knüller liefern, mit dem wir uns dann wieder beschäftigen können, sicherlich auf`s Neue hin- und hergerissen zwischen heimlichem Interesse und Neid einerseits und skeptischen oder katastrophalen Befürchtungen andererseits.


Bis dahin - BIEP !


( Artikel aus dem Jahresbericht der EB der Caritas in Wuppertal, 1998 )


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