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Die Bedeutung der Großväter

  • Rainer Koch
  • 21. Apr.
  • 4 Min. Lesezeit

"Willkommen im Zeitalter der Großeltern", titelt 2022 das Magazin Evangelische Aspekte https://www.evangelische-aspekte.de/zeitalter-der-grosseltern/

und berichtet einige interessante Fakten der Neuzeit, denen wir normalerweise wenig Beachtung schenken:


Noch nie habe es so viele Großeltern wie heute gegeben.


"Während noch 1890 zwei Drittel aller Kinder keine Großeltern und schon gar keinen Großvater erlebten, führte nur drei Generationen weiter der steile Anstieg der Lebenserwartung zu einer nennenswerten erstmalig gemeinsamen Zeit von Großeltern und Enkeln. Heute liegt bei Geburt des ersten Enkelkindes der Anteil der noch lebenden Großeltern bei 90 Prozent, und für 20-Jährige ist es wahrscheinlicher, noch eine lebende Großmutter zu haben (90%) als dass 20-Jährige um 1900 noch eine lebende Mutter (80 %) hatten. Drei Viertel aller Großväter erleben noch die Volljährigkeit ihres ersten Enkelkindes", schreibt Prof. Dr. Eckart Hammer im genannten Magazin.


Waren die Großmütter schon früher bei vielen Menschen mit großem Einfluß auch in der Erziehung der Enkel wirksam, so haben neuerdings die Großväter enorm aufgeholt und leisten auch einen großen Anteil der großelterlichen Betreuung der Enkelkinder.


Das war früher nicht so.


Als Angehöriger der ersten Nachkriegsgeneration habe ich selbst meine eigenen Großväter nicht oder sehr wenig erlebt.


Der Großvater väterlicherseits starb kurz nach dem Ende des 2.Weltkrieges, als er beim Holzsammeln im Wald auf eine Mine trat.

Er war Straßenbahnschaffner, hatte Frau und 14 Kinder, 7 Jungen und 7 Mädchen, eine biblische Zahl, die auch den strengen Katholizismus der einfachen Familie widerspiegelten.


Die Kinder waren zum Glück schon erwachsen, als ihr Vater starb. Ein Sohn war im Krieg verschollen, ein zweiter ohne Bein zurückgekommen, ein dritter Sohn, ehemaliger U-Boot-Matrose, litt lebenslang an wiederkehrenden Anfällen aufgrund Dekompressionsschäden, weil sein U-Boot im Krieg versenkt wurde und er aus der Tiefe zuschnell aufsteigen musste.


Mein Vater kam nach russischer Kriegsgefangenschaft in den Kohlegruben von Workuta erst 2 Jahre nach Kriegsende zurück und fand seinen Vater nicht mehr vor. Er selbst war körperlich nach grauenvollen Kriegserlebnissen, Angst, Hunger und Entbehrung körperlich und psychisch geschädigt nach Hause gekommen.


Erst spät realisierte ich, daß er klaustrophob geworden war aufgrund der Panik in den überfüllten Schützengräben, Bunkern und Kohlegruben, weshalb er größere Menschen-ansammlungen mied, nie mit uns Kindern ins Kino ging oder einem seiner Söhne in der Sporthalle zuschaute.


Den eigenen Vater hatte er in respekt- und liebevoller Erinnerung behalten, aber kaum von ihm zu uns Kindern gesprochen. So blieb dieser Großvater uns völlig unbekannt. Sein Tod bewirkte auch, daß die ursprünglich große Familie das Zentrum und den Zusammenhalt verlor, die Bindungen aneinander zerrissen und auch mein Vater nur noch wenig positive Kontakte zu seinen Geschwistern aufrecht erhalten konnte, nachdem später auch die Großmutter gestorben war.


Der Großvater mütterlicherseits war nach längerer Inhaftierung im Konzentrationslager ebenfalls seelisch und gesundheitlich geschädigt und kaum präsent.

Die Ehe zu seiner Frau, meiner Großmutter, war infolge seiner Inhaftierung im 3. Reich zerbrochen, auch meine Mutter hatte den nahen Kontakt zu ihm verloren, obwohl das Großelternpaar in den 50er/60er Jahren wieder zeitweise zusammen kam. Beide Frauen verziehen ihm nicht, daß sie wegen seiner abwertenden Witze im Kollegenkreis über Hitler allein in der furchtbaren Kriegszeit bleiben mussten und hatten andrerseits Schuldgefühle, da sie nicht zu ihm gehalten hatten.


Nach dem Krieg war der frühere kräftige Mann, ehemals Maschinenmeister und Kraftfahrer verrentet, als Losverkäufer bei der Kirmes besserte er seine kleine Rente wieder auf. Ich habe ihn fast gar nicht erlebt, in Erinnerung blieb sein Geruch aus einer Mischung von Pfefferminz, Magentabletten, Franzbranntwein und seinem Rasierwasser sowie das Bild eines stummen und dünnen alten Mannes. Nach seiner Teilnahme als Zeuge an einem der letzten KZ-Prozesse in Frankfurt kam er allerdings kurz auf der Reise zu Besuch bei meiner Familie vorbei, im Gedächtnis blieb mir die kleine Flasche Cola, die er mir in einem Cafe spendierte.


Insofern habe ich wie viele meiner Altersgenossen meine Großväter nicht wirklich erlebt. Sie blieben ohne Nachhall und Wirkung wie dünne Schatten auf einem Bild, das verschwommen eine grausige Szene im Hintergrund abbildet.


So blieben mir und dem jüngeren Bruder nur der Vater und einige Lehrer als gestaltende Männer im Rahmen der Ausbildung einer geschlechtsspezifischen Identifizierung und

Identität in Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit, was sowohl Vor- und Nachteil hatte, aber auch dem Vater viel Bedeutung, Konflikte und Verantwortung auferlegte.


Bei vielen meiner jüngeren Patienten und Patientinnen unter 50 Jahren an wird dahingegen in der Psychotherapie oft deutlich, wie hilfreich die Anwesenheit vom Opa (und der Oma) ist, welche ohne die Last der Erziehungsverantwortung oftmals sehr positiv wirken und den Patienten als Kindern zu etwas mehr an Selbstwert und Stabilität verhelfen konnten als es deren Eltern möglich war.


Zudem stellen diese Großeltern neben der Mutter öfter auch die einzige positive Konstante dar neben einem Elternleben voller Partnerkonflikte und häufiger Beziehungswechsel.


Insofern ist es immer bedeutsam, die transgenerationalen Beziehungen und deren Wirken zu betrachten, wenn möglich bis hin zu den Urgroßeltern, die mitunter auch noch in der Kindheit der Patienten lebten und ein Echo in der kindlichen Seele hinterließen.


Es ist so unabhängig von der fachspezifischen Ausrichtung wichtig und ratsam, nach diesen Beziehungen zu fragen und sich ein Bild zu machen, ganz egal ob man nun analytisch, tiefenpsychologisch, verhaltenstherapeutisch, systemisch usw. arbeitet.


Ein hilfreiches Instrument dabei ist ein Genogramm, das die Beziehungswelt der Patienten grafisch überschaulich abbildet. Ich arbeite seit vielen Jahren nicht mehr ohne dies.





 
 
 

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